Projekt
Peinlichkeit – eine kulturwissenschaftliche Studie zu einem
unsäglichen Gefühl
War nicht das ganze Leben peinlich. Thomas Mann,
Tagebuch
Das Projekt beschäftigt sich, ausgehend
von der Thematisierung und theoretischen Begründung der Kategorie des
Peinlichen in Traktatliteratur und ästhetischer Programmatik des 18. Jahrhunderts,
vor allem mit der Funktionalisierung und formalästhetischen Gestaltung
von Peinlichkeit in der sog. 'Schönen Literatur' und im Film. Ein Schwerpunkt
des Interesses liegt auf der Wechselbeziehung zwischen den ethisch-normativen
und den ästhetischen Implikationen des Themas und deren Konsequenzen für
das Erzählprogramm der Belletristik im 19. und 20. Jahrhundert und für
die filmische Narrativik im 20 Jahrhundert. Der Vergleich mit Entwicklungen
innerhalb der Romania, insonderheit Frankreichs und Italiens, könnte verdeutlichen,
so eine These, daß der dortigen Verankerung dessen, was peinlich ist,
im Gesellschaftlichen (im Comment) im deutschen Kultur- und Literaturraum
eine (individual-)psychologische und moralische Verortung des Peinlichkeitsempfindens
und seiner Instrumentalisierung entspricht.
Daß es sich beim Phänomen des Peinlichen
um eine im wesentlichen wirkungsästhetisch bestimmte Größe handelt, macht
Reiz und Gefahr des Gegenstandes aus. Gerade deswegen verlangt seine Untersuchung
einen fachübergreifenden Zugang, der den ästhetischen Rezeptionsbegriff
an einen empirischen anbindet und mittels genauer sozialhistorischer Situierung
vor kurzschlüssigen ‚Anachronismen des Gefühls' bewahrt. Die exemplarische
Untersuchung des Peinlichen verspricht Aufschluß über die Wechselbeziehung
von soziokultureller Konstruktion von ethischen und gesellschaftlichen
Normen, deren psychischer Verankerung und körperlicher Manifestation im
Individuum sowie der Ästhetisierung von öffentlichen und privaten, realen
und imaginären Normverstößen in Literatur und Film.
Die Ästhetisierung des Peinlichen zielt
auf eine Darstellbarmachung dessen, was sich als Gefühl von Peinlichkeit
eigentlich der Aus- und Zurschaustellung entziehen müsste und sich dem
fachwissenschaftlichen Diskurs, sei er psychologisch oder soziologisch,
auch entzieht. Sie leistet damit im Medium der Kunst zweierlei: eine implizite
Analyse des Peinlichen, seiner Ursachen, Wirkweisen, Manifestationen und
Konsequenzen, sowie - und darin liegt das Spezifikum der Kunst - die gezielte
und objektivierbare Evokation des Gefühls von Peinlichkeit im Empfinden
des Rezipienten. Denn als peinlich erkennen kann ein Rezipient nur, was
er peinlich empfindet. Als ästhetisches, näherhin literarästhetisches
und poetologisches Konzept entspricht das Peinliche deshalb einer Art
antauratisierten ‚negativen Erhabenheit'; es unterliegt dem Verdikt der
Nicht-Darstellbarkeit und vermittelt sich dem Rezipienten qua Evokation
dennoch als psycho-physische Erfahrung. Gleichwohl deuten Repräsentation,
Thematisierung und Umschreibung peinlicher Situationen im Medium der Kunst
bereits auf Strategien der Bewältigung der eigentlichen Erfahrung, in
der das Subjekt so an sich leidet, daß das Peinliche der Scham unterliegt
und verborgen werden muß.
Als psycho-physische Erfahrung zwischen
Scham und Ekel angesiedelt, teilt das Gefühl der Peinlichkeit mit der
Scham die Bindung an soziale Normen und Instanzen des Über-Ichs resp.
Ich-Ideals, mit dem Ekel die unmittelbare Wechselwirkung von Psychischem
und Körperlichem und deren für den Empfindenden wie für den Betrachter
unangenehme und unschöne Manifestationen — ein Umstand, der die
späte und dann auch nur marginale Thematisierung von Scham und Peinlichkeit
in der klassischen Affektenlehre erklären mag. Am Beispiel des Peinlichen
lässt sich deshalb auch gut der Anteil rhetorisch-poetischer Auseinandersetzung
mit dem Thema Emotion nachzeichnen, die bekanntlich früh einsetzt und
deren Leitdifferenzen bis heute das Feld psychologischer Emotionsforschung
strukturieren.
In psycho-physischer und sozialer Hinsicht
ist das Peinliche eine Art "sekundärer Affekt", an dessen spezifischer
Ausprägung und konkreter Aktualisierung das kulturelle Umfeld erheblichen
Anteil hat. Im Verhältnis von Norm und Emotion ‚verkörpert' das Peinlichkeitsempfinden
die Funktion eines überstarken Über-Ichs. Dessen Forderungen, gesellschaftlichen
oder ästhetischen Idealvorstellungen gerecht zu werden, lassen das Ich
im Falle der Verfehlung symbolische oder reale Formen der individuellen
Kränkung und sozialen Degradierung fürchten; die schmerzhafte Konfrontation
mit dem eigenen Ich-Ideal beschädigt das Selbstbild. Als gesellschaftlich
(mit-)definierte Größe ist das als peinlich Empfundene Indikator von sozialen
Wandlungsprozessen. Sozialhistorisch und mentalitätsgeschichtlich aussagekräftig
sind die thematischen Felder, Motive und Konstellationen, die zeitspezifisch
oder nahezu zeitübergreifend als peinlich, also unschicklich, anstößig
oder lächerlich gelten, etwa der Themenkomplex „Alter und Sexualität“.
Betrachtet man Peinlichkeit im Sinne
neuerer psychologischer Forschungen (vgl. Goffman 1956; Roos & Brandtstädter
1988) als ein Phänomen gesteigerter und damit bereits vom Normalen abweichender,
also gestörter Selbstaufmerksamkeit, so bedeutet sie den zeitweiligen
Verlust dessen, was Kleist im Marionettentheater-Aufsatz als
natürliche Anmut des unbewussten Seins begreift. Darin zeigt sich die
ästhetische Dimension dessen, was als psychische Erfahrung einer „metaperspektivischen
Kognition“ (Miller 1995) das Individuum verunsichert und als soziale
Erfahrung des Peinlichen als indirekter Indikator gesellschaftlicher Normen
und Grundwerte fungiert.
Die Beobachtung der Medienlandschaft,
vor allem im letzten Jahrzehnt, legt den Schluß nahe, dass das ethische
und ästhetische Konzept des anmutigen, selbstidentischen Menschen inzwischen
insoweit obsolet ist, als im öffentlichen Raum Peinliches nicht länger
vermieden, sondern gezielt provoziert und medial demonstriert wird. Die
Frequenz peinlicher Szenen, Themen und Gespräche deutet einerseits auf
die neue Popularität eines klassischen Unlust-Gefühls, das von großem
Unterhaltungswert für den Betrachter zu sein scheint. Andererseits steht
zu vermuten, daß das Gefühl für Peinlichkeit sich nicht nur auf neue Inhalte
erstreckt und so verschiebt, sondern daß es durch konsequente Abnutzung
derart abnimmt, daß es in absehbarer Zeit vielleicht gänzlich historisch
geworden ist. Insofern begreift die Studie sich auch als Dokumentation
eines aussterbenden Gefühls.
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