Dr. Alexandra Pontzen

A.Pontzen@ulg.ac.be


Projekt

Peinlichkeit – eine kulturwissenschaftliche Studie zu einem unsäglichen Gefühl

War nicht das ganze Leben peinlich. Thomas Mann, Tagebuch

Das Projekt beschäftigt sich, ausgehend von der Thematisierung und theoretischen Begründung der Kategorie des Peinlichen in Traktatliteratur und ästhetischer Programmatik des 18. Jahrhunderts, vor allem mit der Funktionalisierung und formalästhetischen Gestaltung von Peinlichkeit in der sog. 'Schönen Literatur' und im Film. Ein Schwerpunkt des Interesses liegt auf der Wechselbeziehung zwischen den ethisch-normativen und den ästhetischen Implikationen des Themas und deren Konsequenzen für das Erzählprogramm der Belletristik im 19. und 20. Jahrhundert und für die filmische Narrativik im 20 Jahrhundert. Der Vergleich mit Entwicklungen innerhalb der Romania, insonderheit Frankreichs und Italiens, könnte verdeutlichen, so eine These, daß der dortigen Verankerung dessen, was peinlich ist, im Gesellschaftlichen (im Comment) im deutschen Kultur- und Literaturraum eine (individual-)psychologische und moralische Verortung des Peinlichkeitsempfindens und seiner Instrumentalisierung entspricht.

Daß es sich beim Phänomen des Peinlichen um eine im wesentlichen wirkungsästhetisch bestimmte Größe handelt, macht Reiz und Gefahr des Gegenstandes aus. Gerade deswegen verlangt seine Untersuchung einen fachübergreifenden Zugang, der den ästhetischen Rezeptionsbegriff an einen empirischen anbindet und mittels genauer sozialhistorischer Situierung vor kurzschlüssigen ‚Anachronismen des Gefühls' bewahrt. Die exemplarische Untersuchung des Peinlichen verspricht Aufschluß über die Wechselbeziehung von soziokultureller Konstruktion von ethischen und gesellschaftlichen Normen, deren psychischer Verankerung und körperlicher Manifestation im Individuum sowie der Ästhetisierung von öffentlichen und privaten, realen und imaginären Normverstößen in Literatur und Film.

Die Ästhetisierung des Peinlichen zielt auf eine Darstellbarmachung dessen, was sich als Gefühl von Peinlichkeit eigentlich der Aus- und Zurschaustellung entziehen müsste und sich dem fachwissenschaftlichen Diskurs, sei er psychologisch oder soziologisch, auch entzieht. Sie leistet damit im Medium der Kunst zweierlei: eine implizite Analyse des Peinlichen, seiner Ursachen, Wirkweisen, Manifestationen und Konsequenzen, sowie - und darin liegt das Spezifikum der Kunst - die gezielte und objektivierbare Evokation des Gefühls von Peinlichkeit im Empfinden des Rezipienten. Denn als peinlich erkennen kann ein Rezipient nur, was er peinlich empfindet. Als ästhetisches, näherhin literarästhetisches und poetologisches Konzept entspricht das Peinliche deshalb einer Art antauratisierten ‚negativen Erhabenheit'; es unterliegt dem Verdikt der Nicht-Darstellbarkeit und vermittelt sich dem Rezipienten qua Evokation dennoch als psycho-physische Erfahrung. Gleichwohl deuten Repräsentation, Thematisierung und Umschreibung peinlicher Situationen im Medium der Kunst bereits auf Strategien der Bewältigung der eigentlichen Erfahrung, in der das Subjekt so an sich leidet, daß das Peinliche der Scham unterliegt und verborgen werden muß.

Als psycho-physische Erfahrung zwischen Scham und Ekel angesiedelt, teilt das Gefühl der Peinlichkeit mit der Scham die Bindung an soziale Normen und Instanzen des Über-Ichs resp. Ich-Ideals, mit dem Ekel die unmittelbare Wechselwirkung von Psychischem und Körperlichem und deren für den Empfindenden wie für den Betrachter unangenehme und unschöne Manifestationen — ein Umstand, der die späte und dann auch nur marginale Thematisierung von Scham und Peinlichkeit in der klassischen Affektenlehre erklären mag. Am Beispiel des Peinlichen lässt sich deshalb auch gut der Anteil rhetorisch-poetischer Auseinandersetzung mit dem Thema Emotion nachzeichnen, die bekanntlich früh einsetzt und deren Leitdifferenzen bis heute das Feld psychologischer Emotionsforschung strukturieren.

In psycho-physischer und sozialer Hinsicht ist das Peinliche eine Art "sekundärer Affekt", an dessen spezifischer Ausprägung und konkreter Aktualisierung das kulturelle Umfeld erheblichen Anteil hat. Im Verhältnis von Norm und Emotion ‚verkörpert' das Peinlichkeitsempfinden die Funktion eines überstarken Über-Ichs. Dessen Forderungen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Idealvorstellungen gerecht zu werden, lassen das Ich im Falle der Verfehlung symbolische oder reale Formen der individuellen Kränkung und sozialen Degradierung fürchten; die schmerzhafte Konfrontation mit dem eigenen Ich-Ideal beschädigt das Selbstbild. Als gesellschaftlich (mit-)definierte Größe ist das als peinlich Empfundene Indikator von sozialen Wandlungsprozessen. Sozialhistorisch und mentalitätsgeschichtlich aussagekräftig sind die thematischen Felder, Motive und Konstellationen, die zeitspezifisch oder nahezu zeitübergreifend als peinlich, also unschicklich, anstößig oder lächerlich gelten, etwa der Themenkomplex „Alter und Sexualität“.

Betrachtet man Peinlichkeit im Sinne neuerer psychologischer Forschungen (vgl. Goffman 1956; Roos & Brandtstädter 1988) als ein Phänomen gesteigerter und damit bereits vom Normalen abweichender, also gestörter Selbstaufmerksamkeit, so bedeutet sie den zeitweiligen Verlust dessen, was Kleist im Marionettentheater-Aufsatz als natürliche Anmut des unbewussten Seins begreift. Darin zeigt sich die ästhetische Dimension dessen, was als psychische Erfahrung einer „metaperspektivischen Kognition“ (Miller 1995) das Individuum verunsichert und als soziale Erfahrung des Peinlichen als indirekter Indikator gesellschaftlicher Normen und Grundwerte fungiert.

Die Beobachtung der Medienlandschaft, vor allem im letzten Jahrzehnt, legt den Schluß nahe, dass das ethische und ästhetische Konzept des anmutigen, selbstidentischen Menschen inzwischen insoweit obsolet ist, als im öffentlichen Raum Peinliches nicht länger vermieden, sondern gezielt provoziert und medial demonstriert wird. Die Frequenz peinlicher Szenen, Themen und Gespräche deutet einerseits auf die neue Popularität eines klassischen Unlust-Gefühls, das von großem Unterhaltungswert für den Betrachter zu sein scheint. Andererseits steht zu vermuten, daß das Gefühl für Peinlichkeit sich nicht nur auf neue Inhalte erstreckt und so verschiebt, sondern daß es durch konsequente Abnutzung derart abnimmt, daß es in absehbarer Zeit vielleicht gänzlich historisch geworden ist. Insofern begreift die Studie sich auch als Dokumentation eines aussterbenden Gefühls.





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